Ein unachtsamer Moment, ein schneller Sturz – und reflexartig stützen wir uns mit der ausgestreckten Hand ab. Was zunächst wie eine harmlose Prellung erscheint, kann sich als eine der gefährlichsten und tückischsten Verletzungen in der Sportorthopädie entpuppen: der Bruch des Kahnbeins (Os scaphoideum).
Das Kahnbein ist der am häufigsten gebrochene Handwurzelknochen, doch seine wahre Brisanz liegt nicht in seiner Häufigkeit, sondern in seiner schleichenden Natur und den schwerwiegenden Spätfolgen, wenn der Bruch übersehen wird. Weil die Schmerzen anfangs oft nur gering sind, wird die Verletzung schnell als „Verstauchung“ abgetan. Doch ein unbehandelter Kahnbeinbruch heilt in vielen Fällen nicht aus und führt zur sogenannten Kahnbein-Pseudarthrose. Dies ist der Beginn einer chronischen Instabilität und einer vorzeitigen Arthrose des Handgelenks, die als SNAC-Wrist (Scaphoid Non-Union Advanced Collapse) bekannt ist – ein Horrorszenario für jeden aktiven Menschen.
Für Sportler, die ihre Hände ständig extremer Belastung aussetzen – sei es im Handball, beim Klettern, Skifahren oder im Kampfsport – ist das Verständnis dieser Verletzung elementar. Es geht darum, im Zweifelsfall immer hellhörig zu sein und auf eine spezialisierte Diagnostik zu bestehen. Denn die Heilung des Kahnbeins erfordert nicht nur Geduld, sondern auch einen präzisen orthopädischen Plan, um die volle Belastbarkeit der Hand wiederherzustellen.
Ein Knochen mit Achillesferse: Anatomie und das Risiko der Pseudarthrose
Das Kahnbein, lateinisch Os scaphoideum (abgeleitet vom Griechischen für „kahnförmig“), ist einer von acht Handwurzelknochen und erfüllt eine zentrale Funktion. Es sitzt an der Speichenseite, bildet die Brücke zwischen der proximalen und distalen Reihe der Handwurzelknochen und ist entscheidend für die komplexe Bewegungskoordination des gesamten Handgelenks.
Der Grund, warum ein Kahnbeinbruch so problematisch ist und ihn zur „Achillesferse“ des Handgelenks macht, liegt in seiner einzigartigen Blutversorgung.
Fast das gesamte Blut, das den Knochen ernährt, gelangt über die distalen (handfernen) Enden in das Kahnbein. Von dort aus zieht das Blutgefäßnetz in Richtung der proximalen (körpernahen) Pole. Wird der Knochen jedoch in seiner Mitte, der sogenannten Taille, oder gar am proximalen Pol gebrochen, wird der körpernahe Teil des Knochens von seiner Blutzufuhr abgeschnitten.
- Taillefraktur: Die häufigste Form des Kahnbeinbruchs. Hier ist die Blutversorgung des proximalen Fragments massiv gefährdet.
- Proximale Polfraktur: Führt fast immer zu einer Unterbrechung der Blutversorgung des Fragments.
Ohne ausreichende Durchblutung fehlt dem Knochen die notwendige Energie für den Heilungsprozess. Die Knochenfragmente wachsen nicht zusammen, und es entsteht eine Pseudarthrose (Falschgelenk). Dieser Zustand führt zur Instabilität der gesamten Handwurzel, zu Fehlbelastungen und, auf lange Sicht, unweigerlich zur Arthrose.
Der klassische Unfallhergang: Symptome, die nicht ignoriert werden dürfen
Der typische Unfallmechanismus, der zu einer Skaphoidfraktur führt, ist ein Sturz auf die ausgestreckte, überstreckte Hand (hyperextendiertes Handgelenk). Die gesamte axiale Last des Körpers trifft dabei ungebremst auf das Kahnbein. Dies ist eine typische Verletzung beim Inline-Skaten, beim Skifahren (häufig mit fixierter Schlaufe), beim Snowboarden oder bei Kontaktsportarten.
Die Symptome sind im Vergleich zu einem Unterarmbruch oft überraschend mild, was die Gefahr der Fehleinschätzung erhöht:
- Milde Schwellung und Schmerz: Im Handgelenk kann eine leichte Schwellung auftreten. Der Schmerz ist oft dumpf und wird beim Greifen oder Abstützen spitzer.
- Schmerz in der Tabatière: Dies ist das kardinale und wichtigste klinische Symptom. Die „anatomische Tabatière“ ist die kleine Grube auf der Daumenseite des sichtbaren Handgelenks wenn der Daumen weggestreckt wird. Ein starker, lokalisierter Druckschmerz in dieser Grube ist hochverdächtig für einen Kahnbeinbruch.
- Schmerz bei axialer Stauchung: Schmerzen, wenn der Daumen entlang seiner Achse in Richtung Handgelenk gestaucht wird.
- Greifschwäche: Die normale Kraft beim Zupacken ist reduziert.
Der wichtigste Rat an alle Sportler und Unfallopfer lautet: Bei jedem Verdacht auf eine Handgelenksverletzung nach einem Sturz, bei der Druckschmerz in der Tabatière vorliegt, muss ein Kahnbeinbruch ausgeschlossen werden. Auch wenn die Röntgenbilder anfänglich negativ sind, sollte eine konsequente, spezialisierte Weiteruntersuchung erfolgen, da die Frühdiagnose über die kurz- und langfristige Prognose entscheidet.
Die Kunst der frühen Diagnose: Warum die „zweite Kontrolle“ so wichtig ist
Aufgrund der komplexen Anatomie und der Überlagerung der Handwurzelknochen im Röntgenbild ist ein Kahnbeinbruch in den ersten Tagen oft nicht sichtbar – man spricht von einem okkulten Bruch. Die Bruchspalte ist zu fein, um sich direkt nach dem Unfall darzustellen.
Daher ist eine gestaffelte und präzise Diagnostik durch den Orthopäden oder Handchirurgen unerlässlich:
- Erste Röntgenuntersuchung (Basisdiagnostik):Es werden spezielle Aufnahmen (mindestens vier Ebenen, inklusive einer speziellen „Skaphoid-Zielaufnahme“) angefertigt. Findet sich eine Fraktur, kann direkt mit der Therapie begonnen werden. Ist der Befund jedoch negativ, die klinischen Symptome (Schmerz in der Tabatière) aber eindeutig, darf die Verletzung nicht ausgeschlossen werden.
- Die diagnostische Grauzone – die zweite Kontrolle:Bei eindeutiger klinischer Symptomatik trotz unauffälligem Röntgenbild muss das Handgelenk für 7 bis 14 Tage ruhiggestellt werden (meist mittels Daumen-Einschluss-Gips oder Schiene). In dieser Zeit wird der Knochen durch die Bewegungspause entlastet. Nach Ablauf dieser Frist folgt die zweite Röntgenkontrolle. Aufgrund der natürlichen Resorptionsprozesse kann sich die Bruchspalte jetzt durch knöcherne Auflösung (Resorption) an den Fragmentenden verbreitern und im Bild erst sichtbar werden.
- Bildgebende Verfahren der Wahl:Um die Heilungschancen nicht durch Zeitverlust zu mindern und die unnötige Gipsruhigstellung bei einem negativen Befund zu vermeiden, werden heute oft direkt sensitivere Verfahren eingesetzt:
- Computertomografie (CT): Ausgezeichnet zur detaillierten Darstellung von Knochenstrukturen, der genauen Bruchform und der Verschiebung der Fragmente. Unverzichtbar bei der Operationsplanung.
- Magnetresonanztomografie (MRT): Am sensitivsten in den ersten Tagen nach dem Trauma. Das MRT kann das Knochenmarködem, welches durch den Bruch ausgelöst wird, bereits nach 24 Stunden darstellen und somit die Diagnose frühzeitig sichern.
Die frühe und korrekte Diagnose erspart dem Patienten monatelange, ineffektive Therapie und verhindert das Abrutschen in die Pseudarthrose.
Der lange Weg zur knöchernen Heilung: Konservativ versus Operativ
Die Therapie des Kahnbeinbruchs richtet sich nach der Lokalisation des Bruchs und der Stabilität der Fragmente. Das oberste Ziel ist immer die vollständige knöcherne Heilung unter Erhalt der Form und Funktion.
- Konservative Behandlung (Gipsruhigstellung): Nur bei unverschobenen Brüchen des distalen Pols oder der Taille, wo die Blutversorgung noch als ausreichend erachtet wird, kann eine konservative Therapie infrage kommen.
- Ruhigstellungsdauer: Diese ist extrem langwierig. Es ist eine Ruhigstellung im Daumen-Einschluss-Gips für 8 bis 12 Wochen erforderlich, oft sogar länger. Die lange Dauer ist notwendig, um die gering durchbluteten Knochenstücke sicher zur Fusion zu bringen.
- Kontrollen: Wöchentliche klinische und radiologische Kontrollen sind obligat.
- Operative Behandlung (Osteosynthese):Die operative Therapie ist heute oft das Mittel der Wahl, insbesondere bei allen verschobenen Frakturen oder bei Brüchen des proximalen Pols (wegen der hohen Gefahr der Pseudarthrose). Auch Sportler, die eine schnellere und sicherere Heilung anstreben, entscheiden sich oft für die Operation.
- Schraubenosteosynthese: Der gebrochene Knochen wird über einen minimalinvasiven Zugang mit einer speziellen Zugschraube (Herbert- oder vergleichbare Schraube) komprimiert und fixiert. Die Schraube zieht die Fragmente zusammen und sorgt für mechanische Stabilität, was die Heilungschancen erhöht. Der Vorteil: Die Schraube verbleibt meist im Knochen und die Ruhigstellungsdauer kann kürzer sein als beim Gips.
- Behandlung der Pseudarthrose: Wenn die Heilung bereits ausgeblieben ist (Pseudarthrose), ist fast immer eine Operation notwendig. Hierbei muss die Pseudarthrose zunächst aufgefrischt werden. Oft wird zusätzlich körpereigener Knochenspan (größtenteils aus der Speiche oder dem Beckenkamm) als „biologischer Klebstoff“ und zur Formkorrektur eingesetzt, bevor die Fragmente mit einer Schraube fixiert werden.
Der Return-to-Sport-Prozess: Geduld, Kraft und Stabilität
Unabhängig von der gewählten Therapieform ist die Rehabilitation nach einem Kahnbeinbruch ein langwieriger und anspruchsvoller Prozess. Die lange Ruhigstellung oder der chirurgische Eingriff führen unweigerlich zu einer starken Einsteifung des Handgelenks und einem erheblichen Kraftverlust der Unterarmmuskulatur.
Der Return-to-Sport-Prozess ist in drei Phasen unterteilt und erfordert Disziplin und die enge Zusammenarbeit mit einem spezialisierten Handtherapeuten oder Physiotherapeuten.
- Frühphase (Wiederherstellung der Beweglichkeit):Nach Entfernung des Gipses oder der ersten Heilungsphase nach der Operation steht die Mobilisierung im Vordergrund. Ziel ist es, die volle aktive und passive Beweglichkeit des Handgelenks wiederzuerlangen. Dabei werden passive Dehnungen und aktive Mobilisationsübungen durchgeführt, um die Verklebungen und die Steifigkeit zu lösen, ohne die Heilung des Knochens zu gefährden.
- Kraftaufbau und Stabilität:Sobald die knöcherne Heilung radiologisch gesichert ist, beginnt der Kraftaufbau. Hierbei liegt der Fokus auf:
- Unterarmmuskulatur: Gezielte Übungen mit Bällen, Knetmasse und leichten Gewichten zur Kräftigung der Beuger, Strecker und der Rotationsmuskulatur.
- Gezielte Handwurzelstabilität: Funktionelles Training der tiefliegenden Handgelenksstabilisatoren, die die kleinen Handwurzelknochen dynamisch sichern.
- Sportartspezifisches Training (Return-to-Play):Erst wenn die Kraft annähernd die Werte der unverletzten Seite erreicht hat und das Gelenk vollkommen schmerzfrei ist, kann das sportartspezifische Training beginnen.
- Schrittweise Belastung: Sprung- und Stützübungen (z. B. Liegestütze) werden langsam wieder in den Trainingsplan integriert. Im Tennis beginnt man mit leichten Schlägen und steigert sukzessive die Intensität des Aufschlags.
- Prävention: Bei Risikosportarten kann die Verwendung von festen Bandagen oder individuell angefertigten Handgelenksstützen in den ersten Monaten nach Rückkehr in den Sport ratsam sein, um eine erneute Überlastung oder Verletzung zu vermeiden.
Der Kahnbeinbruch ist eine Lektion in Geduld. Durch eine konsequente, spezialisierte Behandlung und eine langsame, physiotherapeutisch begleitete Rückkehr zur Belastung kann jedoch in den meisten Fällen die volle Funktionsfähigkeit des Handgelenks wiederhergestellt werden – die Voraussetzung für eine schmerzfreie und erfolgreiche sportliche Zukunft.