Oktober 2021 – Ausgabe 38

Skoliosebehandlung aus einer Hand

Dr. med. Bernd Wiedenhöfer
Zum Arztprofil

Dr. med. Jochen Jung
Zum Arztprofil

Dr. med. Christiane Kartak

Keywords: idiopathische Skoliose, neuro-myopathische Skoliose, Cobb-Winkel, Korsetttherapie, Spondylodese

Die Diagnose einer Skoliose trifft nicht nur die Patienten im meist sehr fragilen Lebensabschnitt der Pubertät, der Metamorphose vom Kind zum Erwachsenen, sondern das gesamte familiäre und soziale Umfeld. Darüber hinaus stehen oft unterschwellig das Risiko und die Angst vor einer evtl. im Verlauf notwendigen operativen Behandlung belastend im Raum. Deshalb ist eine kontinuierliche, vertrauensvolle und hochqualitative Behandlungspartnerschaft zwischen Arzt, Patienten und ihren Angehörigen auf der Grundlage wissenschaftlicher Erkenntnisse die Grundvoraussetzung einer Therapie nach Maß.

Das bedeutet auch, die notwendigen diagnostischen und therapeutischen Maßnahmen zwischen den an der Behandlung beteiligten Ärzten und Therapeuten zu koordinieren. Diese im Praxisbereich einmalige Behandlungspartnerschaft bietet Ihnen unser Zentrum.

Was heißt das und was benötigt es? Der folgende Beitrag gibt einen Abriss der Planung und Durchführung der Therapie von der ätiologischen Zuordnung über die diagnostischen Notwendigkeiten bis zur differenzierten Therapie und Nachbehandlung.

Skoliosen sind dreidimensionale Deformitäten der Wirbelsäule mit einer Seitausbiegung der Wirbelsäule im Röntgenbild von über 10° und gleichzeitiger Verdrehung der Wirbelkörper um die eigene Achse. Je nach den betroffenen Regionen der Wirbelsäule zeigen sich in der körperlichen Untersuchung unterschiedliche typische Merkmale, die in der Betrachtung von hinten offensichtlich werden.
Am Brustkorb entwickelt sich rechts ein Hervortreten der Rippenbögen („Rippenbuckel“). Über der Lendenwirbelsäule findet sich die Erhabenheit hingegen auf der linken Seite („Lendenwulst“). Es besteht eine Asymmetrie der Taille und ggf. der Schultern. Schmerzen können angegeben werden, sind aber kein Leitsymptom.

Die Skoliose ist die häufigste Deformität der Wirbelsäule des Kindes- und Jugendalters. Trotz allem ist sie mit 2 – 3 % der betroffenen Jugendlichen insgesamt selten; Mädchen sind im Verhältnis 4:1 häufiger betroffen. In etwa 80 % der Fälle ist die Ursache ungeklärt. Man spricht dann von idiopathischen Skoliosen. Eine erbliche Komponente ist wahrscheinlich, familiäre Häufungen sind vorhanden. Über 80 % der idiopathischen Skoliosen treten während des pubertären Wachstumsschubs in Erscheinung, aber auch ein früheres Auftreten ist möglich. Die nicht-idiopathischen Skoliosen des Kindes- und Jugendalters haben entweder eine neuro-myopathische Ursache infolge neurologischer Behinderungen wie infantile Cerebralparese (ICP), Spina bifida und erworbenen Querschnittslähmungen oder sind Folge von Muskelerkrankungen wie der Duchenne-Muskeldystrophie u. a. In seltenen Fällen sind Skoliosen durch knöcherne Fehlanlagen der Wirbelkörper auch angeboren. Neben der Einteilung der Skoliosen anhand ihrer Ursache wird heute eine Einteilung nach dem Alter der Erstdiagnose vorgenommen: Skoliosen, die im Alter unter zehn Jahren manifest werden als Early Onset Skoliosen (EOS) klassifiziert.

Klinische Diagnostik

Die Vorstellung erfolgt meist nach Auffälligkeiten aus den J-Untersuchungen der Kinder- und Jugendärzte oder nach Hinweisen aus dem Schulsportunterricht und Vereinssport durch Lehr- oder Betreuungspersonal. Dort fallen die o. a. Asymmetrie-Zeichen des Rumpfes auf, deren Nachweis zentraler Bestandteil der körperlichen Untersuchung ist. Die klinische Untersuchung erfolgt nach einem standardisierten und zwischen den Unter- suchungsterminen konstanten Ablauf.

Vor allem die mit dem Skoliometer gemessene Ausprägung von Rippenbuckel und Lendenwulst ist ein markantes Zeichen. Darüber hinaus sind die Lotabweichung vom 7. Halswirbel zum Becken, die Körperproportionen, d. h. eine mögliche Verkürzung des Rumpfs, die Haut (zum Ausschluss von Café-au-Lait-Flecken als Hinweis auf eine Neurofibromatose von Recklinghausen, die mit einem signifikant erhöhten Skolioserisiko verbunden ist), und die Lungenfunktion (die zuverlässig durch Fragen nach Sport oder Atemauffälligkeiten unter Belastung erfragt wer- den kann), von Interesse. Die klinische Untersuchung sollte im Wachstumsschub alle sechs Monate und ein Röntgenbild der ganzen Wirbelsäule alle zwölf Monate erfolgen.

Radiologische Diagnostik

In Abhängigkeit vom Grad der klinisch gemessenen Rotation ist bei der Initialdiagnostik eine radiologische Diagnostik der ganzen Wirbelsäule in zwei Ebenen im Stehen notwendig. Darauf wird die Krümmung ausgemessen und der Cobb- Winkel (Deckplatte des oberen zur Grundplatte des unteren Neutralwirbels) bestimmt. Im weiteren Verlauf ist aus Gründen des Strahlenschutzes die konventionelle Röntgen-Diagnostik nur in einer Ebene indiziert.

Da bei den Patienten im Laufe des Wachstums immer wieder Röntgenaufnahmen der gesamten Wirbelsäule anstehen und Skoliose-Patienten nachgewiesenermaßen ein erhöhtes Brustkrebsrisiko haben, streben wir, wenn möglich, den Ersatz der konventionellen digitalen Röntgendiagnostik durch das EOS-Imaging zur weiteren Reduktion der Strahlenexposition an. EOS-Imaging ist eine noch neue, seit ca. zehn Jahren verfügbare und zertifizierte, derzeit in Deutschland noch seltene radiologische Diagnostik. Sie ist bis auf zwei Standorte (u. a. „Die Wirbelsäule“ Heidelberg) ausschließlich in Kliniken angesiedelt. Die spezielle stereoradiographische Aufnahmetechnik, deren Technologie mit dem Nobelpreis gewürdigt wurde, ermöglicht mit seinem Ultra-Low-Dose-Protokoll bei hoher Bildqualität und Option der dreidimensionalen Rekonstruktion eine massive Reduktion der Strahlenbelastung um bis zu 90%.

Wenn ergänzend die Flexibilität der Wirbelsäule zur konservativen oder operativen Therapieplanung analysiert werden muss, sind umkrümmende Funktionsaufnahmen (Bending-Aufnahmen) erforderlich, die ebenfalls strahlenreduziert im EOS-Imaging durchgeführt werden können. Zur Therapieplanung ist ferner die Kenntnis des Restwachstumspotenzials wichtig, die beispielsweise anhand des Ausmaßes der Anlage der Apophysenfugen der Beckenkämme (Risser-Stadium) auf den EOS-Imaging-Aufnahmen beurteilt wird.

Die strahlungsfreie Magnetresonanztomographie (MRT) wird bei rasch zunehmenden Skoliosen oder bei einer Operationsindikation durchgeführt, um Veränderungen im Rückenmark auszuschließen, die Skoliosen verursachen können.

Prognose

Je früher die idiopathische Skoliose einsetzt, desto größer ist ihr Potenzial der Zunahme während des Wachstums. Damit steigert sich auch das Risiko, dass eine operative Therapie notwendig wird. Von den in der Pubertät einsetzenden Skoliosen müssen nur etwa 2 % operiert werden, bei den früher beginnenden Skoliosen liegt die Rate deutlich höher.

Das Progressionspotenzial der neuro-myopathischen Skoliose ist abhängig von der zugrunde liegenden Erkrankung. Das Progressionspotenzial der angeborenen Skoliosen ist von der Art der Wirbelsäulenfehlanlage abhängig und kann zwischen 1° und 10° pro Jahr betragen.

Therapie

Am Übergang der 2000er- in die 2010er- Jahre sorgte der von James Ogilvie und Mitarbeitern entwickelte, auf Speichelabstrichen basierende genetische Test ScoliscoreTM für Aufsehen. Mit dem Test war die Hoffnung verbunden, das Progressionspotenzial der idiopathischen Skoliosen sicher vorhersagen zu können. Mit dem Score-System, bei dem ein niedriger Score ein niedriges und ein hoher Score ein hohes Progressionspotenzial bedeutete, eröffnete sich die Option einer selektiveren, individuelleren und effizienteren Therapie. Leider konnte in der Folge in unabhängigen Validierungen des Tests die Vorhersagewahrscheinlichkeit nicht bestätigt werden, sodass bis heute die Therapieplanung idiopathischer Skoliosen auf der Grundlage des Cobb-Winkels und der Wachstumsreserve erfolgen muss.

Diese Planung erfolgt nach den folgenden Kriterien:

Zwischen 10° und 20° Cobb-Winkel werden die Patienten unter Dokumentation der klinischen Parameter beobachtet und zu körperlicher Aktivität animiert. Nur im Falle von Schmerzen ist Krankengymnastik (KG) indiziert.

Zwischen 20° und 45° ist eine Korsetttherapie angezeigt (Abb. 1). Das Korsett muss grundsätzlich ganztägig und nachts getragen werden und lediglich zu Hygienemaßnahmen und Sport oder Krankengymnastik (KG) abgelegt werden. Die Korrektur durch das Korsett ist allerdings nur nachhaltig möglich, wenn die Apophysenfugen des Beckenkamms zu Beginn der Therapie noch mindestens zu 50 % (< Risser-Stadium III) geöffnet sind, da nur so ein ausreichendes, durch das Restwachstum begründetes Korrekturpotenzial ausgenutzt werden kann. Ferner muss durch das Korsett eine primäre Korrektur je nach Rigidität der zu behandelnden Kurve von mindestens 30 %, optimal von 50 % erreicht werden. KG mit einem Hausübungsprogramm ist begleitend sinnvoll. Sofern KG nach Schroth in einer im Alltag erreichbaren Nähe vom Wohnort verfügbar ist, ist das positiv, aber auch andere KG ist möglich. Über 45° ist grundsätzlich eine Operation angezeigt, da ein Fortschreiten der Deformität auch nach Wachstumsabschluss höchst wahrscheinlich ist. Dann wird ein kurzer stationärer Aufenthalt von etwa 7-10 Tagen nötig. Die operative Therapie wird unter höchstem Sicherheitsstandard mit intraoperativem Neuromonitoring (Überwachung der sensiblen und motorischen Nervenfunktionen) durchgeführt. Auf diese Weise lässt sich die Skoliose um durchschnittlich 60 bis 70 % korrigieren. Ziel der Operationen ist die dreidimensionale, selektive korrigierende Versteifung (Spondylodese) möglichst weniger Segmente unter Erhaltung der maximalen Beweglichkeit der Wirbelsäule (Abb. 2). Deshalb sollte die Operation, wenn sie anhand der Progressionswahrscheinlichkeit sicher absehbar ist, frühzeitig erfolgen, um den zu operierenden Teilbereich kürzer halten zu können, verschleißbedingte Veränderungen in den Anschlusssegmenten zu verringern und letztlich das Operationsrisiko für das Auftreten neurologischer Komplikationen zu reduzieren, das mit der Zunahme der Verkrümmung, besonders bei Cobb-Winkeln über 80°, und mit zunehmendem Alter ansteigt.

Die Therapie der neuro-myopathischen Skoliose muss individuell geplant und auch an die vorhandenen Nebenerkrankungen angepasst (z. B. Herzfehler, Lungenfunktionstörung, Ernährungszustand etc.) werden. Korrigierende Korsette sind infolge der eingeschränkten muskulären Führung deutlich weniger effektiv als bei idiopathischen Skoliosen. Sofern operative Therapien angezeigt sind, kann bei Grunderkrankungen wie der ICP in etwa identisch zur idiopathischen Skoliose die Indikation ab einem Cobb-Winkel von 40° oder auch früher bei signifikanter Progression der Kurve in einem sehr kurzen Zeitraum gestellt werden.

Myopathische Skoliosen, wie bei der Duchenne-Muskeldystrophie, werden hingegen bereits ab einem Cobb-Winkel von 20° operativ behandelt, da diese Patienten bei Überschreiten dieses Winkels einen raschen Kollaps der Wirbelsäule mit einer kurzfristigen exponentiellen Zunahme der Skoliose erleiden.

Bei angeborenen Skoliosen funktioniert die Korsetttherapie gar nicht, da diese Art der Skoliose durch das knöcherne Wachstum der Wirbelkörper gesteuert wird. Bei einseitigen Fehlanlagen (Halbwirbel, Segmented Barr) sollte deshalb frühzeitig, d. h. vor der Pubertät, operiert werden. So kann die Deformität sehr kurzstreckig korrigiert werden und die Ausprägung von komplexen Deformitäten, die sich erst im Wachstum mit einer Progressionswahrscheinlichkeit zwischen 1° und 10° entwickeln, vermieden werden. Unabhängig von der Ursache der Skoliose ist das oberste Ziel die optimale funktionelle Verbesserung und Prävention von Folgeschäden.

Nachbehandlung

Die konservative Korsetttherapie endet etwa 18 Monate nach Wachstumsabschluss, radiologisch nach Schluss der Apophysenfugen (Risser-Stadium V) er- kennbar. Nach Abtrainieren des Korsetts stellt sich meist ein Korrekturverlust ein. Solange der Cobb-Winkel sich aber gegenüber dem Winkel, der die Korsetttherapie indizierte, nicht verschlechtert, ist die Therapie erfolgreich, da langfristig in der Regel nicht mit einer Dekompensation und Operationsindikation zu rechnen ist. In der Folge sind zu definierten Zeitpunkten klinische und ggf. radiologische Kontrollen angebracht.

Im Fall der Operation ist das Ergebnis sofort belastungs- und trainingsstabil. Bereits am Folgetag der Operation wird krankengymnastisch geführt mit der Mobilisierung sowie dem Koordinations- und Alltagstraining begonnen. Ziel ist es, schnell die sichere und selbstständige Mobilisation auch auf der Treppe zu erlangen. Wenn dieser Zustand erreicht ist, ist die Entlassung möglich. Die KG ist fortzuführen und kann nach drei Monaten durch ein gezieltes Gerätetraining ergänzt werden. Dann kann auch die Durchführung einer Rehabilitationsmaßnahme sinnvoll sein.

Nach drei bis vier Wochen ist die Teilnahme am Schulunterricht meist wieder möglich. Auch sportliche Belastungen sind postoperativ für Patienten mit idiopathischer Skoliose nach abgeschlossener Rehabilitation wieder möglich.

Fazit

Die Skoliose ist die häufigste Deformität der Wirbelsäule im Kindes- und Jugendalter und benötigt eine kontinuierliche kinderorthopädische Betreuung, die die Koordination von unterschiedlichen medizinischen Diagnostiken aus Radiologie, Orthopädie und Lungenheilkunde sowie ergänzend Physiotherapie und Orthopädietechnik erfordert.

Das Zentrum für Wirbelsäulenchirurgie mit Skoliose-Zentrum „Die Wirbelsäule“ an der ATOS Klinik Heidelberg bietet in Deutschland durch die Kombination aus Wirbelsäulenorthopädie, physikalischer und rehabilitativer Medizin die einmalige Möglichkeit durch „seinen“ behandelnden Arzt die komplette Skoliose-Behandlung von der Betreuung vor Ort über die interdisziplinäre Hilfsmittelversorgung und Heilmittelverordnung bis zur operativen Therapie und Nachbehandlung aus einer Hand zu erhalten.