Oktober 2019 – Ausgabe 34

Der Coracoid-Transfer nach Latarjet – warum funktioniert er?

Seit etwa 20 Jahren hat es – auch aufgrund hoher Rezidivraten nach Bankart-OP bei gleichzeitig vorliegendem knöchernem Verlust des anterior-inferioren Glenoids – bei chronischer vorderer Schulterinstabilität eine Renaissance des Coracoid-Transfers gegeben. Neben dem knöchernen Aufbau mit einem Beckenkammspan kommt im DEUTSCHEN GELENKZENTRUM der ATOS Klinik Heidelberg fast ausschließlich der Coracoid-Transfer zur Anwendung.

Seit Jahrzehnten ist der von Latarjet 1954 beschriebene Transfer des Processus coracoideus mit einem Teil des Lig. coracoacromiale (LCA) und den Sehnenursprüngen des M. biceps brachii caput breve und des M. coracobrachiale zur Behandlung der chronischen vorderen Schulterinstabilität in Frankreich etabliert. Während im deutschen und amerikanischen Raum die anatomischen Verfahren zur Behandlung der Schulterinstabilität bevorzugt wurden (OP nach Bankart mit Rekonstruktion des Labrums ans Glenoid mit entsprechendem Kapselshift in offener oder arthroskopischer Technik), hat es in den letzten 20 Jahren eine „Wiedergeburt des Coracoid-Transfers“ gegeben. Diese wurde durch eine Meilenstein-Veröffentlichung von Burkhart und DeBeer eingeleitet. Sie stellten fest, dass die Rezidivrate nach arthroskopischer Bankart-OP bei gleichzeitig vorliegendem knöchernem Verlust des antero-inferioren Glenoids inakzeptable 89 % betrug, während diese nur 6,5 % betrug, wenn keine knöchernen Veränderungen vorhanden waren. Durch diese Arbeit gab es einen Wandel  in der Diagnostik und Therapie der antero-inferioren Schulterinstabilität.

Neben den Weichteilverletzungen des Labrums und der Kapsel rückten nun auch knöcherne Läsionen in den Fokus der Diagnostik, was eine Zunahme der CT-Untersuchung mit sich brachte. Bei rezidivierenden Luxationen ist es heute obligat, eine Computertomographie mit dreidimensionaler Rekonstruktion der Scapula unter Subtraktion des Humerus durchzuführen. Mit verschiedenen Messmethoden kann dann in der direkten Aufsichtsaufnahme der Verlust des antero-inferioren Glenoids vermessen werden. Galt bis vor kurzem noch die kritische Grenze von 20 –   25 % Knochenverlust am Glenoid, zeigen neuere Studien nun einen deutlich geringeren Wert von 13 % als den kritischen Grenzwert, bei dessen Überschreitung ein knöcherner Aufbau des Glenoids indiziert ist [10]. Neben dem knöchernen Aufbau mit einem Beckenkammspan kommt bei uns fast ausschließlich der Coracoid-Transfer zur Anwendung.

Prinzip

Mit diesem Eingriff werden drei Ziele verfolgt, weshalb er im Französischen auf als „Triple Verrouillage“ bezeichnet wird:

  • Aufbau des knöchernen Defekts
  • Augmentation der Gelenkkapsel durch das Lig. coracoacromiale
  • Hängemattenfunktion der Conjoint Tendons durch deren Anspannung bei Außenrotation durch den Subscapularis.Ein großer Vorteil des Verfahrens ist die horizontale Spaltung des Subscapularis, wodurch dieser besser erhalten wird als wenn man eine komplette Tenotomie vornehmen muss.

Operative Technik

Der Patient wird in Beach-Chair-Position gelagert; dann wird eine diagnostische Arthroskopie durchgeführt, um die Indikation zu bestätigen, ggf. stärkere Chondralschäden auszuschließen und mögliche Bizepsschäden zu detektieren. Dann erfolgt der Mini-open Coracoid-Transfer.Hierzu erfolgt eine Hautinzision in der vorderen Axillarline von ca. 3 –   5   cm, je nach Muskulatur des Patienten. Nach stumpfen Spreizen erfolgt das Eingehen in die delto-pectorale Grube, Präparation der V. cephalica nach lateral. Mobilisation der Conjoint-Tendons (M.biceps brachii caput breve und M. coracobrachialis). Darstellen des Subscapularis und vorsichtiges Freilegen der Sehne ohne die Nn. subscapulares zu verletzen. Nun wieder Präparation zur Coracoidspitze. Ein Hohmannhaken wird an der Basis des Coracoids eingesetzt. Der Ansatz des Pectoralis minor wird von der medialen Coracoidseite abgelöst. Darstellen und Präparieren des Intervalls zwischen Pectoralis minor und Coracobrachialis. Hier Darstellen und Palpation des N. musculocutaneus, der im Weiteren geschützt werden muss. Lateral wird das LCA so durchtrennt, dass ein ca. 5 mm langer Rest am Coracoid verbleibt.

Dann wird das Coracoid an seinem Knie mit einer oszillierenden Säge abgesetzt und mit zwei Bohrlöchern versehen. Adhäsionen werden schonend gelöst und die Rückseite angefrischt zur besseren Einheilung am Scapulahals. Das Coracoid wird dann unter dem Deltamuskel „geparkt“.Der Sub-scapularis wird horizontal auf einer Länge von gut 4 cm gespalten und von  der darunter liegenden Kapsel abpräpariert. Mit einem Gelpi-Retraktor werden die Subscapularis-Anteile auseinander gedrängt. Die Gelenkkapsel inzidiert man vertikal leicht medial des Labrums. Nun erfolgt die Resektion des pathologischen Labrums; mögliche knöcherne Fragmente werden entfernt. Der Skapulahals wird geglättet und angefrischt. Mit einem speziellen Ziel- und Setzinstrument kann dann das Coracoid so am Skapulahals platziert werden, dass dieser nicht zu lateral (Früharthrose) oder zu medial (persistierende Instabilität) zu liegen kommt. Dann folgt die temporäre Fixierung mit K-Drähten, diese werden überbohrt. Danach kann das Coracoid mit kanülierten Schrauben 4,5 mm mit halbem Gewinde fixiert werden. Mögliche Knochenüberstände werden abgetragen. Dann erfolgt die Kapselrekonstruktion unter Einbeziehung de LCA und eventuellem Kapselshift. Seit-zu-Seit-Naht des Subscapularis, Sukutan- und Hautnaht. Versorgung mit einem Abduktionskissen für drei Wochen. Wie bereits in der Einleitung erwähnt, hat es eine echte Renaissance des Coracoid-Transfers seit Anfang der 2000er Jahre mit folgenden Indikationen gegeben:

Indikationen

  • Rezidivierende Schulterinstabilität mit glenoidalem Knochenverlust > 13 %
  • Rezidivierende Schulterinstabilität mit bipolaren Knochenschaden (glenoidal und großer medial gelegener (Off-Track) Hill-Sachs-Defekt.
  • Als Revisionseingriff nach fehlgeschlagener Vor-OP.
  • Primär-OP bei nicht rekonstruierbarer Glenoidfraktur

Kontraindikationen

  • Instabilität ohne knöchernen Defekt
  • Infekt
  • Fortgeschrittene Omarthrose.

Ergebnisse

Ein stabilisierender Eingriff bei rezidivierenden Luxationen wird an seiner Reluxationsrate bemessen. Ferner werden die Komplikationen und die Rate der Spätarthrosen untersucht.

Rezidivrate

Die Rezidivrate ist bei richtiger Indikation und Technik sehr gering. Sie liegt bei 1 – 3   %, was deutlich geringer ist als bei den arthroskopischen Weichteileingriffen. Einen Unterschied zwischen arthroskopischer und offener Durchführung ist statistisch nicht zu beobachten, mit lediglich einer geringeren Schmerzsymptomatik nach Arthroskopie.

Komplikationen

Das Spektrum der Komplikationen ist weit gefächert und reicht von Nervenschäden des N. musculocutaneus oder N. axillaris über Bruch der Schrauben oder des Coracoidblocks bis hin zu Infekten, fehlender Einheilung, Resorption des Blocks und zur Arthrose bei intraartikulärer Lage des Blocks oder der Schrauben. Gerade diese Komplikationen sind aber mit richtiger OP-Technik und entsprechender Erfahrung so gut wie auszuschließen.

Arthrose

Die Arthroserate, die nicht durch Implantate oder falsche Positionierung bedingt ist, beträgt ca. 25 % und differiert nicht mit der Rate nach offenen oder anderen stabilisierenden Eingriffen. Faktoren, die zu einer Arthrose führen sind

  • Vorbestehende Arthrose
  • Erstluxation und Operation im höheren Alter
  • Zeitverzögerung zur OP
  • Großer Hill-Sachs-Defekt
  • Glenoidbruch
  • Hochleistungssport

Rehabilitation

Die Schulter wird für drei Wochen in einem Abduktionskissen geschont, passive Bewegungsübungen beginnen sofort. Hierbei wird ein rasches Erreichen der freien passiven Bewegungsumfänge angepeilt. Ab der 4. Woche auch Beginn mit Alltagsbelastungen. Ab der 7. Woche Beginn mit Überkopfbelastungen. Meist erreicht man nach drei Monaten einen Zustand, der es erlaubt allmählich wieder mit sportartspezifischen Belastungen zu beginnen. Wiederaufnahme von Überkopf- oder Kontaktsportarten oder schwerer Überkopfarbeit ist meist spätestens nach sechs Monaten möglich.

Fazit

Dieses extra-anatomische Verfahren zur Behandlung der chronisch-rezidivierenden vorderen Schulterinstabilität hat sich seit nunmehr über sechs Jahrzehnten bewährt und führt bei richtiger Indikation und guter OP-Technik in der Hand des geübten Operateurs zu einer stabilen, belastbaren Schulter, die auch in harten Sportarten wie Rugby oder Eishockey dem Spieler die nötige Sicherheit wiedergibt.

Von Sven Lichtenberg